Bornaer Stadtjournal

Weihnachten in Irpin - Ein Bericht von Eberhard Ulm

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Als wir am Samstag, dem 16.12.2023, 22:00 Uhr, die zwei mit Weihnachtspäckchen randvoll gefüllten Autos bestiegen, um uns auf den Weg nach Irpin zu machen, wusste ich nicht, was mich, was uns erwartet. Es lagen 1.500 Kilometer vor uns, wir überquerten die polnische Grenze, fuhren an Krakau und Auschwitz vorbei, passierten bei Przemysl die ukrainische Grenze. Für den Grenzübertritt - EU-Außengrenze! - brauchten wir kaum eine Stunde. Steffen Hennicker war „mein“ Fahrer, er zog die Strecke durch, wollte nicht abgelöst werden, so wie Steve Meilung, der im Februar 2022 fast Opfer der russischen Menschenjagd geworden wäre. Zwei Feuerwehrmänner, vor denen ich meinen Hut ziehe.

Nach fast 18 Stunden Fahrt trafen wir in Irpin ein, Oksana Sulyma hatte unser Eintreffen telefonisch angekündigt. Ukrainische Männer standen bereit, wir brachten mit ihnen die Päckchen in der Bibliothek.

Nun ging es ins Hotel, Zimmer beziehen und Abendessen. Ein in meinem Kopf geisternder, bescheidener, nicht ausgesprochener Wunsch wurde erfüllt: Ukrainischer Borschtsch krönte das Abendessen.

Nach dem Duschen fiel ich erschöpft ins Bett, den Luftalarm gegen 23:00 Uhr hörte ich nicht, ich verschlief auch fast das Frühstück, von der langen Fahrt durch Nacht und Tag verwirrt, hatte ich meinen Handywecker auf Sonntag gestellt.

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Am Montagvormittag, 18.12.2023, erwarteten uns die Irpiner Kinder. Irpin-TV war für Interviews vor Ort, ich sollte mich vorstellen und wurde nach den Motiven befragt, diese Päckchenaktion ins Leben zu rufen. Ja, ich hatte die Idee, den Wunsch, ein Weihnachtspäckchen für Irpin zu packen. In den vergangenen Jahren hatte ich das im Rahmen von „Weihnachten im Schuhkarton“ regelmäßig getan, aber nicht für Irpin. Unsere Vereinsvorsitzende, Katrin Kräcker, griff die Idee auf, der Vorstand stimmte zu, der Verein für Städtepartnerschaften Borna e. V. wurde aktiv. Die LVZ machte das Anliegen öffentlich. 172 Päckchen wurden gesammelt oder von gespendetem Geld gepackt. Und ja, so sagte ich, es ist uns wichtig, den Kindern, die ihre Väter im Krieg verloren haben, ihren Familien, unserer Partnerstadt Irpin, der Ukraine ein Zeichen zu senden, dass wir an sie denken, dass wir ihren Kampf unterstützen, den Kampf für die Freiheit, den wir in der DDR 1989 gekämpft haben, auch um uns aus russischer „Umarmung“ zu befreien.

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Es fällt mir heute nicht schwer zu sagen, dass ich emotional bewegt war, als die Kleinen, Mädchen und Jungen, vor mir standen, bescheiden und scheu lächelnd, um ihr Päckchen in Empfang zu nehmen. Die Freude, die sich dann in ihren Gesichtern breit machte, die Tränen in den Augen ihrer Mütter … Die von der russischen Armee in Irpin angerichteten Zerstörungen hatten wir - auch im Abenddunkel - schon am Sonntag gesehen. Nun sahen wir im Tageslicht das ganze Ausmaß, und doch nicht das ganze: Manche Ruine ist bereits abgebrochen worden, die Trümmer sind weggeräumt, der Wiederaufbau hat begonnen. Oksana zeigte uns das zerstörte Kulturhaus und Sportstadion, Ruinen von Wohnhäusern, unzählige, zu Haufen aufgestapelte PKW, deren Insassen, Zivilisten, die von den Russen erschossen worden waren, als sie flüchten wollten, lassen das Ausmaß der Katastrophe erkennen. Ein kaum zu überschauendes Areal für die ermordeten Frauen, Kinder, Männer und im Kampf gefallenen Soldatinnen und Soldaten auf dem Friedhof von Irpin spricht eine deutliche Sprache.

So wie die am Abreisetag besichtigte, von der ukrainischen Armee gesprengte Brücke über den Fluss Irpin, wo der Vormarsch der russischen Invasionsarmee durch die tapfere ukrainische Armee nach Kiew gestoppt werden konnte. Und wir fuhren auch durch Butscha, wo die Russen aus Wut über ihren Misserfolg hunderte Zivilisten ermordet haben.

Voller Eindrücke traten wir die Rückreise an, die 27 Stunden dauern sollte: Sieben Stunden und 40 Minuten mussten wir an der ukrainisch-polnischen Grenze warten. Nur etwa 200 Kilometer saß ich am Steuer, den „Rest“ zog Steffen durch, Steve fuhr die gesamte Strecke, beim Aufenthalt an der Grenze hatte nicht nur er etwas Schlaf gehabt.

Erschöpft trafen wir in Borna ein. Ich schlief über zwölf Stunden, bis ich die Impressionen ordnen konnte.

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Ja, beim Interview mit Irpin-TV habe ich gesagt, dass wir wissen, dass die Ukraine auch für uns, für unsere Freiheit kämpft. Russische Schülerinnen und Schüler lernen in den neuesten russischen Lehrbüchern, dass die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands eine Annexion Ostdeutschlands durch Westdeutschland gewesen sei. So, wie Russland jetzt die ukrainische Kolonie zurückerobern will, müsste dieser Logik folgend auch die ehemalige ostdeutsche Kolonie „befreit“ werden.

Es liegt auch in unserer Hand, ob in Deutschland eigene Friedhofsareale für von den Russen „befreiten“ Deutsche entstehen.

Eberhard Ulm

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